BGH, Beschluss vom 12.05.2022, AZ AK 14/22 und AK 18/22

Pres­se­mit­tei­lung des Bun­des­ge­richts­hofs, Nr. 61/2022, vom 12.05.2022

Bun­des­ge­richts­hof trifft zwei Ent­schei­dun­gen zur Unter­su­chungs­haft von sog. IS-Rückkehrerinnen

Beschlüs­se vom 21. April 2022 – AK 14/22 und AK 18/22

Der Bun­des­ge­richts­hof hat im Rah­men der Sechs-Monats-Haft­prü­fung (§§ 121, 122 StPO) dar­über ent­schie­den, ob die Unter­su­chungs­haft von zwei Frau­en fort­zu­dau­ern hat, die sich frei­wil­lig mit ihren min­der­jäh­ri­gen Kin­dern in den vom sog. “Isla­mi­schen Staat” (IS) kon­trol­lier­ten Teil des Bür­ger­kriegs­ge­biets in Syri­en bege­ben hat­ten und im Okto­ber 2021 aus einem nord­sy­ri­schen Lager nach Deutsch­land zurück­ge­führt wur­den. Gegen eine Beschul­dig­te wur­de seit der Ein­rei­se ein Haft­be­fehl des Ermitt­lungs­rich­ters des Ober­lan­des­ge­richts Mün­chen, gegen die ande­re ein sol­cher der Ermitt­lungs­rich­te­rin des Kam­mer­ge­richts voll­zo­gen. Bei­de Haft­an­ord­nun­gen waren auf die Vor­wür­fe der mit­glied­schaft­li­chen Betei­li­gung an einer ter­ro­ris­ti­schen Ver­ei­ni­gung im Aus­land (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 StGB) und der Ver­let­zung der Für­sor­ge- oder Erzie­hungs­pflicht (§ 171 StGB) gestützt. Der nach der Geschäfts­ver­tei­lung des Bun­des­ge­richts­hofs für Staats­schutz­sa­chen zustän­di­ge 3. Straf­se­nat hat hin­sicht­lich des Haft­be­fehls des Kam­mer­ge­richts die Haft­fort­dau­er ange­ord­net (AK 14/22). Den Haft­be­fehl des Ober­lan­des­ge­richts Mün­chen hat er auf­ge­ho­ben (AK 18/22).

Mit den bei­den Ent­schei­dun­gen hat der Bun­des­ge­richts­hof sei­ne Recht­spre­chung zur Straf­bar­keit von sog. IS-Rück­keh­re­rin­nen bestä­tigt und fort­ge­führt. Hier­nach setzt die mit­glied­schaft­li­che Betei­li­gung an einer ter­ro­ris­ti­schen Ver­ei­ni­gung im Aus­land – wie sonst auch – eine gewis­se ein­ver­nehm­li­che Ein­glie­de­rung der Täte­rin in die Orga­ni­sa­ti­on (Mit­glied­schaft) und eine akti­ve Tätig­keit zur För­de­rung deren Zie­le (Betei­li­gung) vor­aus. Trotz einer isla­mis­ti­schen Gesin­nung müs­sen dabei Betä­ti­gun­gen der Ehe­frau eines IS-Ange­hö­ri­gen im Haus­halt und beim Auf­zie­hen von Kin­dern im IS-Herr­schafts­ge­biet für sich gese­hen noch kei­ne mit­glied­schaft­li­chen Betei­li­gungs­ak­te dar­stel­len. Auch die Unter­stüt­zung einer ter­ro­ris­ti­schen Ver­ei­ni­gung (§ 129a Abs. 5 Satz 1 StGB), wel­che die Straf­bar­keit einer der Ver­ei­ni­gung nicht ange­hö­ren­den Per­son betrifft, liegt in sol­chen Fäl­len nicht ohne Wei­te­res vor. Als mit­glied­schaft­li­che Betei­li­gung kön­nen Haus­halts­füh­rung und Kin­der­er­zie­hung indes zu bewer­ten sein, wenn die in die Orga­ni­sa­ti­on ein­ge­bun­de­ne Täte­rin deren Akti­vi­tä­ten auch durch wei­te­re Hand­lun­gen fördert.

Ver­fah­ren AK 14/22 – Haft­be­fehl des Kammergerichts:

Der 3. Straf­se­nat hat das Ermitt­lungs­er­geb­nis dahin gewür­digt, dass mit hoher Wahr­schein­lich­keit im Okto­ber 2016 die damals 25jährige Beschul­dig­te mit ihren bei­den zwei- und ein­jäh­ri­gen Söh­nen in das syri­sche IS-Herr­schafts­ge­biet aus­reis­te. Sie beab­sich­tig­te, durch die­sen Schritt ihren noch zöger­li­chen Ehe­mann nach isla­mi­schem Ritus, der nicht damit ein­ver­stan­den war, dass sie die bei­den Kin­der mit­nahm, eben­falls zur Aus­rei­se dort­hin zu bewe­gen. Eini­ge Zeit spä­ter folg­te er tat­säch­lich sei­ner Fami­lie. Die Beschul­dig­te und er schlos­sen sich dem IS an. Er betä­tig­te sich nach einer ent­spre­chen­den Aus­bil­dung für die Orga­ni­sa­ti­on als Kämp­fer an krie­ge­ri­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen. Sie zer­streu­te sei­ne Zwei­fel an ter­ro­ris­ti­schen Akti­vi­tä­ten und wirk­te, als er ernst­haft erwog, das Bür­ger­kriegs­ge­biet zu ver­las­sen, erfolg­reich auf ihn ein, um ihn zum Ver­bleib bei der Orga­ni­sa­ti­on zu bewe­gen. Ihre Kin­der erzog sie im Sin­ne der IS-Ideo­lo­gie. Noch wäh­rend ihrer Inter­nie­rung in dem nord­sy­ri­schen Lager ver­wen­de­te sie auf ihrem “Whats­App-Pro­fil” Sta­tus­bil­der, die unter ande­rem die IS-Fah­ne zeig­ten, erstell­te auf “Tele­gram” einen jiha­dis­ti­schen Kanal und warb bei “Glau­bens­ge­schwis­tern” um Spen­den für IS-Anhängerinnen.

Der Senat hat neben dem drin­gen­den Ver­dacht der Ver­let­zung der Für­sor­ge- oder Erzie­hungs­pflicht auch den­je­ni­gen der mit­glied­schaft­li­chen Betei­li­gung an einer ter­ro­ris­ti­schen Ver­ei­ni­gung im Aus­land ange­nom­men. Nach der maß­geb­li­chen Ver­dachts­la­ge wirk­te die Beschul­dig­te ent­schei­dend auf den Bei­tritt ihres Man­nes zum IS sowie sei­nen Ver­bleib bei die­sem als Kämp­fer hin. Ins­be­son­de­re der sich dar­in mani­fes­tie­ren­de Wil­le zur För­de­rung der Orga­ni­sa­ti­on hat es gerecht­fer­tigt, die Betä­ti­gun­gen im Haus­halt und bei der Kin­der­er­zie­hung eben­falls als auf Dau­er ange­leg­tes ver­ei­ni­gungs­ty­pi­sches Ver­hal­ten, mit­hin als mit­glied­schaft­li­che Betei­li­gungs­ak­te, zu bewer­ten. Denn die Hand­lun­gen haben sich in Anbe­tracht der Ein­bin­dung der Beschul­dig­ten in die Orga­ni­sa­ti­on und ihres Ziels, im Rah­men der ihr nach radi­kal-isla­mi­schen Vor­stel­lun­gen zuge­dach­ten Rol­le die Kampf­be­reit­schaft des Man­nes zu gewähr­leis­ten, nicht ledig­lich als blo­ße all­täg­li­che Ver­rich­tun­gen ohne Orga­ni­sa­ti­ons­be­zug – als Erfül­lung “häus­li­cher Pflich­ten” — dar­ge­stellt. Da auch die wei­te­ren Vor­aus­set­zun­gen für die Haft­fort­dau­er vor­ge­le­gen haben, war sie anzuordnen.

Ver­fah­ren AK 18/22 – Haft­be­fehl des Ober­lan­des­ge­richts München:

Der 3. Straf­se­nat hat es nach den von den Ermitt­lungs­be­hör­den bis­her gewon­ne­nen Erkennt­nis­sen als hoch­wahr­schein­lich erach­tet, dass im April 2015 die damals 30jährige Beschul­dig­te mit ihrem Ehe­mann und drei min­der­jäh­ri­gen Kin­dern in das syri­sche IS-Herr­schafts­ge­biet aus­reis­te. Sie befass­te sich wäh­rend ihres dor­ti­gen Auf­ent­halts mit der Haus­halts­füh­rung und Kin­der­er­zie­hung; ihr Mann war nach einer reli­giö­sen und mili­tä­ri­schen Aus­bil­dung für eine tech­ni­sche Ein­heit des IS tätig.

Der Senat hat unter Anle­gung der ein­schlä­gi­gen recht­li­chen Maß­stä­be den drin­gen­den Tat­ver­dacht wegen mit­glied­schaft­li­cher Betei­li­gung an einer oder Unter­stüt­zung einer ter­ro­ris­ti­schen Ver­ei­ni­gung im Aus­land ver­neint. Dem bis­he­ri­gen Ermitt­lungs­er­geb­nis war nicht zu ent­neh­men, dass sich die Beschul­dig­te mit hoher Wahr­schein­lich­keit in die Orga­ni­sa­ti­on des IS ein­glie­der­te. Eben­so wenig brach­ten die Ermitt­lun­gen Umstän­de her­vor, die es – wie im Ver­fah­ren AK 14/22 — gerecht­fer­tigt hät­ten, das Ver­hal­ten der Beschul­dig­ten als akti­ve Tätig­keit zur För­de­rung der von der Ver­ei­ni­gung ver­folg­ten Zie­le und damit als Betei­li­gungs­ak­te zu betrach­ten (etwa wer­ben­de und steu­ern­de Betä­ti­gun­gen von Gewicht). Nach der maß­geb­li­chen Ver­dachts­la­ge erschöpf­te sich das Ver­hal­ten der Beschul­dig­ten in einem all­täg­li­chen Leben im “Kali­fat”. Auf den ver­blei­ben­den drin­gen­den Ver­dacht der Ver­let­zung der Für­sor­ge- oder Erzie­hungs­pflicht hat indes, nach mehr als halb­jäh­ri­ger Unter­su­chungs­haft, der Haft­be­fehl man­gels Haft­grun­des nicht gestützt wer­den kön­nen. Des­halb war die Ent­las­sung der Beschul­dig­ten aus der Unter­su­chungs­haft anzuordnen.

Vor­in­stan­zen:
OLG Mün­chen – OGs 69/20 – Haft­be­fehl vom 22. Mai 2020

KG – 1 ER 49/20 — 17 OJs 8/19 – Haft­be­fehl vom 11. Juni 2020

Maß­geb­li­che Vorschriften:

§ 129a StGB – Bil­dung ter­ro­ris­ti­scher Vereinigungen

(1) Wer eine Ver­ei­ni­gung (§ 129 Absatz 2) grün­det, deren Zwe­cke oder deren Tätig­keit dar­auf gerich­tet sind,

1.Mord (§ 211) oder Tot­schlag (§ 212) oder Völ­ker­mord (§ 6 des Völ­ker­straf­ge­setz­bu­ches) oder Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit (§ 7 des Völ­ker­straf­ge­setz­bu­ches) oder Kriegs­ver­bre­chen (§§ 8, 9, 10, 11 oder § 12 des Völ­ker­straf­ge­setz­bu­ches) oder

zu bege­hen, oder wer sich an einer sol­chen Ver­ei­ni­gung als Mit­glied betei­ligt, wird mit Frei­heits­stra­fe von einem Jahr bis zu zehn Jah­ren bestraft.

(5) 1Wer eine in Absatz 1, 2 oder Absatz 3 bezeich­ne­te Ver­ei­ni­gung unter­stützt, wird in den Fäl­len der Absät­ze 1 und 2 mit Frei­heits­stra­fe von sechs Mona­ten bis zu zehn Jah­ren, in den Fäl­len des Absat­zes 3 mit Frei­heits­stra­fe bis zu fünf Jah­ren oder mit Geld­stra­fe bestraft. …

§ 129b StGB – Kri­mi­nel­le und ter­ro­ris­ti­sche Ver­ei­ni­gun­gen im Aus­land; Einziehung

(1) 1Die §§ 129 und 129a gel­ten auch für Ver­ei­ni­gun­gen im Ausland. …

§ 171 StGB – Ver­let­zung der Für­sor­ge- oder Erziehungspflicht

Wer sei­ne Für­sor­ge- oder Erzie­hungs­pflicht gegen­über einer Per­son unter sech­zehn Jah­ren gröb­lich ver­letzt und dadurch den Schutz­be­foh­le­nen in die Gefahr bringt, in sei­ner kör­per­li­chen oder psy­chi­schen Ent­wick­lung erheb­lich geschä­digt zu wer­den, einen kri­mi­nel­len Lebens­wan­del zu füh­ren oder der Pro­sti­tu­ti­on nach­zu­ge­hen, wird mit Frei­heits­stra­fe bis zu drei Jah­ren oder mit Geld­stra­fe bestraft.

Wei­te­re Infor­ma­tio­nen: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/recht…