BGH, Beschluss vom 25.03.2022, AZ 5 StR 457/21

Pres­se­mit­tei­lung des Bun­des­ge­richts­hofs, Nr. 38/2022, vom 25.03.2022

Encro­Chat-Daten zur Auf­klä­rung schwe­rer Straf­ta­ten verwertbar

Beschluss vom 2. März 2022 – 5 StR 457/21

Der in Leip­zig ansäs­si­ge 5. Straf­se­nat des Bun­des­ge­richts­hofs hat die Revi­si­on des Ange­klag­ten gegen ein Urteil des Land­ge­richts Ham­burg vom 15. Juli 2021 verworfen.

Das Land­ge­richt hat den Ange­klag­ten wegen zehn Ver­bre­chen des Han­del­trei­bens mit Betäu­bungs­mit­teln in nicht gerin­ger Men­ge zu einer Gesamt­frei­heits­stra­fe von fünf Jah­ren ver­ur­teilt und die Ein­zie­hung von Tat­erlö­sen über mehr als 70.000 Euro ange­ord­net. In eini­gen Fäl­len waren zen­tra­le Beweis­mit­tel SMS-Nach­rich­ten des Ange­klag­ten, die die­ser über den Anbie­ter Encro­Chat zur Orga­ni­sa­ti­on des Dro­gen­han­dels ver­sandt hat­te. Der Ange­klag­te hat mit sei­ner Revi­si­on u.a. gerügt, dass die­se von fran­zö­si­schen Behör­den 2020 erlang­ten und der deut­schen Jus­tiz über­mit­tel­ten Daten nicht als Beweis­mit­tel hät­ten ver­wer­tet wer­den dürfen.

Der Bun­des­ge­richts­hof hat die Revi­si­on des Ange­klag­ten auf Antrag des Gene­ral­bun­des­an­walts ver­wor­fen. Er hat ent­schie­den, dass die von Frank­reich über­mit­tel­ten Daten des Anbie­ters Encro­Chat als Beweis­mit­tel ver­wert­bar sind, wenn sie wie im vor­lie­gen­den Fall der Auf­klä­rung schwe­rer Straf­ta­ten dienen.

1. Der Ent­schei­dung des Bun­des­ge­richts­hofs lag fol­gen­der Sach­ver­halt zugrunde:

a) Nach den vom Ange­klag­ten mit sei­ner Revi­si­on vor­ge­leg­ten umfang­rei­chen Unter­la­gen gab es in Frank­reich 2017 und 2018 Hin­wei­se dar­auf, dass Tat­ver­däch­ti­ge orga­ni­sier­ten Dro­gen­han­del (bis zu 6 kg Hero­in und 436 kg Mari­hua­na) über beson­ders ver­schlüs­sel­te Mobil­te­le­fo­ne (“Kryp­to­han­dys”) des Anbie­ters Encro­Chat abwi­ckel­ten. Mit die­sen Gerä­ten konn­te man weder tele­fo­nie­ren noch das Inter­net nut­zen, son­dern ledig­lich Chat-Nach­rich­ten (SMS) ver­sen­den, Noti­zen anle­gen oder Sprach­nach­rich­ten spei­chern und ver­sen­den. Eine Kom­mu­ni­ka­ti­on war nur zwi­schen Nut­zern von Encro­Chat mög­lich. Auf­grund einer beson­de­ren Aus­stat­tung der Tele­fo­ne und einer beson­de­ren Ver­schlüs­se­lungs­tech­nik konn­ten Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den weder auf die damit geführ­te Kom­mu­ni­ka­ti­on zugrei­fen noch die Gerä­te inhalt­lich aus­le­sen oder orten. Mit die­sen Merk­ma­len und einer Garan­tie der Anony­mi­tät wur­den die Gerä­te bewor­ben. Aller­dings konn­te man sie nicht von offi­zi­el­len Ver­kaufs­stel­len, son­dern nur von spe­zi­el­len Ver­käu­fern über anony­me Kanä­le zu einem hohen Preis von 1.610 Euro für einen Nut­zungs­zeit­raum von sechs Mona­ten erwer­ben. Ein legal exis­tie­ren­des Unter­neh­men “Encro­Chat” war eben­so wenig zu fin­den wie Ver­ant­wort­li­che die­ser Fir­ma oder ein Unternehmenssitz.

b) Die fran­zö­si­schen Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den lei­te­ten ein Ermitt­lungs­ver­fah­ren u.a. wegen des Ver­dachts einer kri­mi­nel­len Ver­ei­ni­gung ein und fan­den her­aus, dass die ver­schlüs­sel­te Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen Encro­Chat-Nut­zern über einen im fran­zö­si­schen Rou­baix betrie­be­nen Ser­ver lief. Mit Geneh­mi­gung durch ein fran­zö­si­sches Gericht grif­fen sie auf die Daten auf dem Ser­ver zu. Hier­bei ergab sich, dass 66.134 SIM-Kar­ten eines nie­der­län­di­schen Anbie­ters im Sys­tem ein­ge­tra­gen waren, die in einer Viel­zahl euro­päi­scher Län­der ver­wen­det wur­den. Eine Dechif­frie­rung meh­re­rer tau­send “Noti­zen” von Encro­Chat-Nut­zern beleg­te, dass die­se zwei­fels­frei mit ille­ga­len Akti­vi­tä­ten wie ins­be­son­de­re Dro­gen­han­del mit bis zu 60 kg Koka­in in Ver­bin­dung standen.

c) Auf Antrag der fran­zö­si­schen Staats­an­walt­schaft wur­de in Frank­reich rich­ter­lich u.a. die Instal­la­ti­on einer Abfang­ein­rich­tung zu den über den fran­zö­si­schen Ser­ver lau­fen­den und auf den Tele­fo­nen gespei­cher­ten Daten ab dem 1. April 2020 geneh­migt. Nach ers­ten Erkennt­nis­sen wur­den von den in Frank­reich akti­ven Tele­fo­nen sicher jeden­falls 63,7 % für kri­mi­nel­le Zwe­cke ver­wen­det, die übri­gen Gerä­te (36,3 %) waren ent­we­der teils inak­tiv oder noch nicht aus­ge­wer­tet. Staats­an­walt­schaft und Gericht gin­gen nach der Aus­wer­tung der im ers­ten Monat erlang­ten Daten von einer “nahe­zu aus­schließ­lich kri­mi­nel­len Kli­en­tel” der Encro­Chat-Nut­zer aus.

d) Dem Bun­des­kri­mi­nal­amt wur­den über Euro­pol Erkennt­nis­se zug­lei­tet, wonach in Deutsch­land eine Viel­zahl schwers­ter Straf­ta­ten von Encro­Chat-Nut­zern began­gen wur­den. Die Zen­tral­stel­le zur Bekämp­fung für Inter­net­kri­mi­na­li­tät bei der Gene­ral­staats­an­walt­schaft Frank­furt am Main lei­te­te dar­auf­hin ein Ermitt­lungs­ver­fah­ren gegen Unbe­kannt ein. In die­sem Ver­fah­ren erging am 2. Juni 2020 eine an Frank­reich gerich­te­te Euro­päi­sche Ermitt­lungs­an­ord­nung mit dem Antrag, die Deutsch­land betref­fen­den Encro­Chat-Daten zu über­mit­teln und deren Ver­wen­dung in deut­schen Straf­ver­fah­ren zu erlau­ben. Bei­des geneh­mig­te ein fran­zö­si­sches Gericht am 13. Juni 2020.

2. Fol­gen­de recht­li­chen Erwä­gun­gen waren für den Bun­des­ge­richts­hof entscheidend:

a) Ver­fas­sungs­ge­mä­ße Rechts­grund­la­ge für die Ver­wer­tung von Bewei­sen im Straf­pro­zess ist § 261 StPO. Dies gilt auch für im Wege der Rechts­hil­fe erlang­te Daten. Eine aus­drück­li­che Rege­lung, dass sol­che Bewei­se nur ein­ge­schränkt ver­wen­det wer­den dür­fen, ent­hält das deut­sche Recht nicht. Da eine Ver­wer­tung von wie hier erlang­ten Daten einen Ein­griff in das von Art. 10 GG geschütz­te Fern­mel­de­ge­heim­nis ent­hal­ten kann, muss von Ver­fas­sungs wegen der Ver­hält­nis­mä­ßig­keits­grund­satz beson­ders beach­tet wer­den. In Anleh­nung an Ver­wen­dungs­be­schrän­kun­gen wie § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO dür­fen der­art erlang­te Daten zur Über­füh­rung sol­cher beson­ders schwe­rer Straf­ta­ten ver­wen­det wer­den, für deren Auf­klä­rung die ein­griffs­in­ten­sivs­ten Ermitt­lungs­maß­nah­men des deut­schen Straf­ver­fah­rens­rechts – nament­lich eine Online-Durch­su­chung oder eine akus­ti­sche Wohn­raum­über­wa­chung – ange­ord­net wer­den dürf­ten. Hier­zu gehö­ren regel­mä­ßig die in Rede ste­hen­den Ver­bre­chen nach dem Betäubungsmittelgesetz.

b) Das von der Revi­si­on gel­tend gemach­te Beweis­ver­wer­tungs­ver­bot besteht unter kei­nem recht­li­chen Gesichtspunkt.

aa) Die Fra­ge, ob ein sol­ches Ver­bot besteht, rich­tet sich aus­schließ­lich nach deut­schem Recht. Eine Über­prü­fung der fran­zö­si­schen Ermitt­lungs­maß­nah­men am Maß­stab aus­län­di­schen Rechts fin­det dabei nicht statt. Es kommt damit auch nicht ent­schei­dend dar­auf an, ob eine wie hier in Frank­reich allein nach fran­zö­si­schem Recht durch­ge­führ­te Maß­nah­me auch in Deutsch­land hät­te ange­ord­net wer­den kön­nen. Dies ist nicht Vor­aus­set­zung für einen Trans­fer der nach fran­zö­si­schem Recht von fran­zö­si­schen Behör­den erlang­ten Bewei­se in ein deut­sches Straf­ver­fah­ren. Die unter­schied­li­chen Anord­nungs­vor­aus­set­zun­gen in Frank­reich und Deutsch­land kön­nen auf der Ebe­ne der Beweis­ver­wer­tung kom­pen­siert wer­den. Des­halb gel­ten hier­für die unter a) genann­ten beson­ders hohen Voraussetzungen.

bb) Ein Ver­stoß der Beweis­erhe­bung gegen men­schen- oder euro­pa­recht­li­che Grund­wer­te oder gegen grund­le­gen­de Rechts­staats­an­for­de­run­gen im Sin­ne eines im Rechts­hil­fe­ver­kehr zu prü­fen­den “ord­re public” liegt nicht vor. Nach den den fran­zö­si­schen Behör­den nach dem ers­ten Daten­zu­griff vor­lie­gen­den Infor­ma­tio­nen ging es bei den Ermitt­lun­gen nicht um eine anlass­lo­se Mas­sen­über­wa­chung einer Viel­zahl auch unver­däch­ti­ger Han­dy-Nut­zer. Viel­mehr stell­te sich Encro­Chat für die fran­zö­si­schen Behör­den als ein von vor­ne­her­ein auf die Unter­stüt­zung kri­mi­nel­ler Akti­vi­tä­ten aus­ge­rich­te­tes und im Ver­bor­ge­nen agie­ren­des Netz­werk dar. Auf­grund der ers­ten Erkennt­nis­se einer nahe­zu aus­schließ­lich kri­mi­nel­len Nut­zung sol­cher Tele­fo­ne war ein Nut­zer hier­nach schon allein auf­grund des mit erheb­li­chen Kos­ten ein­her­ge­hen­den Erwerbs eines auf nor­ma­lem Ver­triebs­weg nicht erhält­li­chen Encro­Chat-Han­dys kri­mi­nel­ler Akti­vi­tä­ten aus dem Bereich der orga­ni­sier­ten Kri­mi­na­li­tät wie Dro­gen- und Waf­fen­han­del oder Geld­wä­sche verdächtig.

cc) Ein mög­li­cher Ver­stoß fran­zö­si­scher Behör­den gegen die Pflicht, Deutsch­land zeit­nah über das Bun­des­ge­biet betref­fen­de Abhör­maß­nah­men zu unter­rich­ten, kann schon ange­sichts der spä­te­ren all­sei­ti­gen Geneh­mi­gung der Daten­ver­wen­dung kein Beweis­ver­wer­tungs­ver­bot zur Fol­ge haben. Unge­ach­tet des­sen ist frag­lich, ob die Unter­rich­tungs­pflicht dem Indi­vi­du­al­schutz der Betrof­fe­nen vor einer Beweis­ver­wen­dung im Inland dient. Jeden­falls wür­de aber die gebo­te­ne Abwä­gung der unter­schied­li­chen Inter­es­sen zu einem Über­wie­gen des staat­li­chen Straf­ver­fol­gungs­in­ter­es­ses füh­ren. Recht­lich unbe­denk­lich ist auch, dass die Gene­ral­staats­an­walt­schaft Frank­furt am Main einen umfas­sen­den Beweis­trans­fer in einem gegen Unbe­kannt geführ­ten Ver­fah­ren auf einer all­ge­mei­nen, letzt­lich aber jeden Nut­zer kon­kret betref­fen­den Ver­dachts­la­ge bean­tragt hat.

dd) Einen etwai­gen Ver­stoß gegen rechts­hil­fe­recht­li­che Vor­schrif­ten beim Daten­aus­tausch oder der sons­ti­gen Zusam­men­ar­beit zwi­schen fran­zö­si­schen und deut­schen Poli­zei­be­hör­den vor Erlass der Euro­päi­schen Ermitt­lungs­an­ord­nung hat die Revi­si­on nicht gel­tend gemacht. Es kommt des­halb nicht dar­auf an, dass ein durch­grei­fen­der Rechts­feh­ler auf­grund der nach­träg­li­chen Ein­ho­lung einer Ein­wil­li­gung ohne­hin nicht auf der Hand liegt, zumal die grenz­über­schrei­ten­de Über­mitt­lung von Erkennt­nis­sen zur Straf­ver­fol­gung nach den euro­päi­schen Rechts­hil­fe­vor­schrif­ten auch ohne Rechts­hil­fe­er­su­chen ohne wei­te­res zuläs­sig ist. An die Ver­wer­tung der aus einem sol­chen Infor­ma­ti­ons­aus­tausch stam­men­den Daten sind jeden­falls kei­ne höhe­ren Anfor­de­run­gen als an die Ver­wer­tung von durch eine Euro­päi­sche Ermitt­lungs­an­ord­nung erlang­ten Daten zu stel­len. Eine geziel­te oder sys­te­ma­ti­sche Umge­hung dem indi­vi­du­el­len Rechts­schutz von Beschul­dig­ten die­nen­der Vor­schrif­ten durch fran­zö­si­sche oder deut­sche Behör­den ist weder nach­voll­zieh­bar dar­ge­legt noch sonst kon­kret ersichtlich.

Der Beschluss wird in Kür­ze in der Ent­schei­dungs­da­ten­bank auf der Inter­net­sei­te des Bun­des­ge­richts­hofs abruf­bar sein.

Vor­in­stanz:
Land­ge­richt Ham­burg – Urteil vom 15. Juli 2021 – 632 KLs 8/21

Wei­te­re Infor­ma­tio­nen: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/recht…