Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt, Beschluss vom 15.12.2020, AZ 2 BvR 1616/18

Aus­ga­be: 12–2020 / 1–2021

Quel­le: Pressemitteilung

Mit heu­te ver­öf­fent­lich­tem Beschluss hat die 3. Kam­mer des Zwei­ten Senats des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts einer Ver­fas­sungs­be­schwer­de statt­ge­ge­ben, die den Zugang des Betrof­fe­nen im Buß­geld­ver­fah­ren wegen Geschwin­dig­keits­über­schrei­tung zu Infor­ma­tio­nen betrifft, die nicht Teil der Buß­geld­ak­te waren. Der Beschwer­de­füh­rer begehr­te zunächst im Rah­men des behörd­li­chen Buß­geld­ver­fah­rens erfolg­los Zugang zu Infor­ma­tio­nen, unter ande­rem der Lebens­ak­te des ver­wen­de­ten Mess­ge­räts, dem Eich­schein und den soge­nann­ten Roh­mess­da­ten, die sich nicht in der Buß­geld­ak­te befan­den. Der gegen den anschlie­ßend erlas­se­nen Buß­geld­be­scheid ein­ge­leg­te Ein­spruch blieb vor den Fach­ge­rich­ten erfolg­los. Der begehr­te Zugang zu den Infor­ma­tio­nen wur­de dem Beschwer­de­füh­rer auch von den Fach­ge­rich­ten vor sei­ner Ver­ur­tei­lung nicht gewährt. Die Ent­schei­dun­gen der Fach­ge­rich­te ver­let­zen den Beschwer­de­füh­rer in sei­nem Recht auf ein fai­res Ver­fah­ren aus Art. 2 Abs. 1 in Ver­bin­dung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

Sach­ver­halt:

Der Beschwer­de­füh­rer bean­trag­te im Rah­men eines Buß­geld­ver­fah­rens wegen einer Geschwin­dig­keits­über­schrei­tung Ein­sicht ins­be­son­de­re in die gesam­te Ver­fah­rens­ak­te, die Lebens­ak­te des Mess­ge­rä­tes, die Bedie­nungs­an­lei­tung des Her­stel­lers, die Roh­mess­da­ten der gegen­ständ­li­chen Mes­sung und in den Eich­schein des ver­wen­de­ten Mess­ge­rä­tes. Die Buß­geld­stel­le gewähr­te dar­auf­hin Ein­sicht in die Buß­geld­ak­te, die neben dem Mess­pro­to­koll und dem Mess­ergeb­nis auch den Eich­schein des ein­ge­setz­ten Mess­ge­rä­tes ent­hielt. Die Bedie­nungs­an­lei­tung zu dem ver­wen­de­ten Mess­ge­rät wur­de dem Beschwer­de­füh­rer als Datei auf der Inter­net­sei­te der Buß­geld­stel­le zugäng­lich gemacht. Bezüg­lich der übri­gen ange­frag­ten Infor­ma­tio­nen teil­te die Behör­de mit, dass die­se nicht Bestand­teil der Ermitt­lungs­ak­te sei­en und nur auf gericht­li­che Anord­nung vor­ge­legt würden.

Gegen den anschlie­ßend erlas­se­nen Buß­geld­be­scheid leg­te der Beschwer­de­füh­rer Ein­spruch ein und wie­der­hol­te sein Gesuch. Einen Antrag des Beschwer­de­füh­rers auf gericht­li­che Ent­schei­dung ver­warf das Amts­ge­richt als unzu­läs­sig, da der Beschwer­de­füh­rer nicht mehr beschwert sei. Auf­grund des Ein­spruchs wer­de nun­mehr im gericht­li­chen Buß­geld­ver­fah­ren eine umfas­sen­de Prü­fung erfol­gen, ob der Beschwer­de­füh­rer die ihm vor­ge­wor­fe­ne Stra­ßen­ver­kehrs­ord­nungs­wid­rig­keit tat­säch­lich began­gen habe.

In der Haupt­ver­hand­lung wies das Amts­ge­richt die Anträ­ge des Beschwer­de­füh­rers auf Aus­set­zung der Haupt­ver­hand­lung und gericht­li­che Ent­schei­dung gemäß § 46 Abs. 1 OWiG in Ver­bin­dung mit § 238 Abs. 2 StPO zurück, ver­ur­teil­te ihn wegen Über­schrei­tung der zuläs­si­gen Höchst­ge­schwin­dig­keit außer­halb geschlos­se­ner Ort­schaf­ten um 30 km/h zu einer Geld­bu­ße und erteil­te ihm ein ein­mo­na­ti­ges Fahr­ver­bot. Der begehr­te Zugang zu den Infor­ma­tio­nen wur­de dem Beschwer­de­füh­rer zuvor nicht gewährt. Das Amts­ge­richt führ­te zur Begrün­dung der Ver­ur­tei­lung aus, bei einer Geschwin­dig­keits­mes­sung mit dem zum Ein­satz gekom­me­nen Mess­ge­rät han­de­le es sich um ein soge­nann­tes stan­dar­di­sier­tes Mess­ver­fah­ren. Das Gerät sei geeicht gewe­sen und durch geschul­tes Per­so­nal ent­spre­chend den Vor­ga­ben der Bedie­nungs­an­lei­tung des Her­stel­lers ein­ge­setzt wor­den. Die Rich­tig­keit des gemes­se­nen Geschwin­dig­keits­werts sei damit indi­ziert. Kon­kre­te Anhalts­punk­te, die geeig­net wären, Zwei­fel an der Funk­ti­ons­tüch­tig­keit oder der sach­ge­rech­ten Hand­ha­bung des Mess­ge­räts und des­halb an der Rich­tig­keit des Mess­ergeb­nis­ses zu begrün­den, sei­en im Rah­men der Haupt­ver­hand­lung nicht ent­stan­den und auch im Vor­feld vom Beschwer­de­füh­rer nicht vor­ge­tra­gen wor­den. Das Ober­lan­des­ge­richt Bam­berg ver­warf die dage­gen ein­ge­leg­te Rechts­be­schwer­de und führ­te unter ande­rem aus, dass ein Ver­stoß gegen den Grund­satz des fai­ren Ver­fah­rens nicht vor­lie­ge, da es allein um eine Fra­ge der gericht­li­chen Auf­klä­rungs­pflicht gehe. Der Betrof­fe­ne habe im Ver­fah­ren aus­rei­chen­de pro­zes­sua­le Mög­lich­kei­ten, sich aktiv an der Wahr­heits­fin­dung zu betei­li­gen. Eine Bei­zie­hung von Beweis­mit­teln oder Unter­la­gen sei aller­dings unter kei­nem recht­li­chen Gesichts­punkt geboten.

Mit sei­ner Ver­fas­sungs­be­schwer­de rügt der Beschwer­de­füh­rer unter ande­rem eine Ver­let­zung sei­nes aus Art. 2 Abs. 1 in Ver­bin­dung mit Art. 20 Abs. 3 GG fol­gen­den Rechts auf ein fai­res Ver­fah­ren durch die Fachgerichte.

Wesent­li­che Erwä­gun­gen der Kammer:

Die zuläs­si­ge Ver­fas­sungs­be­schwer­de ist begründet.

Die ange­grif­fe­nen Ent­schei­dun­gen ver­let­zen den Beschwer­de­füh­rer in sei­nem aus Art. 2 Abs. 1 in Ver­bin­dung mit Art. 20 Abs. 3 GG fol­gen­den Recht auf ein fai­res Verfahren.

1.Von Ver­fas­sungs wegen nicht zu bean­stan­den ist, dass die Fach­ge­rich­te von einer redu­zier­ten Sach­ver­halts­auf­klä­rungs- und Dar­le­gungs­pflicht im Fall eines stan­dar­di­sier­ten Mess­ver­fah­rens aus­ge­gan­gen sind.

Bei die­sen Mess­ver­fah­ren sind nach der Recht­spre­chung des Bun­des­ge­richts­hofs gerin­ge­re Anfor­de­run­gen an die Beweis­füh­rung und die Urteils­fest­stel­lun­gen der Fach­ge­rich­te zu stel­len. Bestehen kei­ne Beden­ken gegen die Rich­tig­keit des Mess­ergeb­nis­ses, genügt des­halb zum Nach­weis eines Geschwin­dig­keits­ver­sto­ßes grund­sätz­lich die Mit­tei­lung des ein­ge­setz­ten Mess­ver­fah­rens, der ermit­tel­ten Geschwin­dig­keit nach Abzug der Tole­ranz und des berück­sich­tig­ten Tole­ranz­wer­tes. Bei stan­dar­di­sier­ten Mess­ver­fah­ren sind daher im Regel­fall – ohne kon­kre­te Anhalts­punk­te für even­tu­el­le Mess­feh­ler – die Fest­stel­lungs- und Dar­le­gungs­pflich­ten des Tat­ge­richts redu­ziert. Dem Betrof­fe­nen bleibt aber die Mög­lich­keit eröff­net, das Tat­ge­richt auf Zwei­fel auf­merk­sam zu machen und einen ent­spre­chen­den Beweis­an­trag zu stel­len. Hier­für muss er kon­kre­te Anhalts­punk­te für tech­ni­sche Fehl­funk­tio­nen des Mess­ge­rä­tes vor­tra­gen. Die blo­ße Behaup­tung, die Mes­sung sei feh­ler­haft, begrün­det für das Gericht kei­ne Pflicht zur Aufklärung.
Die­se Vor­ge­hens­wei­se der Fach­ge­rich­te im Ord­nungs­wid­rig­kei­ten­ver­fah­ren ist nicht zu bean­stan­den. Hier­durch wird gewähr­leis­tet, dass bei mas­sen­haft vor­kom­men­den Ver­kehrs­ord­nungs­wid­rig­kei­ten nicht bei jedem ein­zel­nen Buß­geld­ver­fah­ren anlass­los die tech­ni­sche Rich­tig­keit einer Mes­sung jeweils neu über­prüft wer­den muss. Dem gerin­ge­ren Unrechts­ge­halt der Ord­nungs­wid­rig­kei­ten gera­de im Bereich von mas­sen­haft vor­kom­men­den Ver­kehrs­ver­stö­ßen kann durch Ver­ein­fa­chun­gen des Ver­fah­rens­gangs Rech­nung getra­gen werden.

2. Aus dem Recht auf ein fai­res Ver­fah­ren folgt grund­sätz­lich auch im Ord­nungs­wid­rig­kei­ten­ver­fah­ren das Recht, Kennt­nis von sol­chen Inhal­ten zu erlan­gen, die zum Zweck der Ermitt­lung ent­stan­den sind, aber nicht zur Akte genom­men wur­den. Wenn der Betrof­fe­ne Zugang zu Infor­ma­tio­nen begehrt, die sich außer­halb der Gerichts­ak­te befin­den, um sich Gewiss­heit über sei­ner Ent­las­tung die­nen­de Tat­sa­chen zu ver­schaf­fen, ist ihm die­ser Zugang grund­sätz­lich zu gewäh­ren. Dies bedeu­tet aller­dings nicht, dass das Recht auf Zugang zu den außer­halb der Akte befind­li­chen Infor­ma­tio­nen unbe­grenzt gilt. Gera­de im Bereich mas­sen­haft vor­kom­men­der Ord­nungs­wid­rig­kei­ten ist in Hin­blick auf die Funk­ti­ons­tüch­tig­keit der Rechts­pfle­ge eine sach­ge­rech­te Ein­gren­zung des Infor­ma­ti­ons­zu­gangs gebo­ten. Die begehr­ten, hin­rei­chend kon­kret benann­ten Infor­ma­tio­nen müs­sen des­halb zum einen in einem sach­li­chen und zeit­li­chen Zusam­men­hang mit dem jewei­li­gen Ord­nungs­wid­rig­kei­ten­vor­wurf ste­hen und zum ande­ren eine Rele­vanz für die Ver­tei­di­gung auf­wei­sen, um eine ufer­lo­se Aus­for­schung, erheb­li­che Ver­fah­rens­ver­zö­ge­run­gen und Rechts­miss­brauch zu ver­hin­dern. Inso­fern ist maß­geb­lich auf die Per­spek­ti­ve des Betrof­fe­nen bezie­hungs­wei­se sei­nes Ver­tei­di­gers abzu­stel­len. Ent­schei­dend ist, ob die­ser eine Infor­ma­ti­on ver­stän­di­ger Wei­se für die Beur­tei­lung des Ord­nungs­wid­rig­kei­ten­vor­wurfs für bedeut­sam hal­ten darf.

Durch die Gewäh­rung eines sol­chen Infor­ma­ti­ons­zu­gangs wird der Recht­spre­chung zu stan­dar­di­sier­ten Mess­ver­fah­ren nicht die Grund­la­ge ent­zo­gen. Zwar steht dem Betrof­fe­nen ein Zugangs­recht vom Beginn bis zum Abschluss des Ver­fah­rens zu. Er kann sich mit den Erkennt­nis­sen aus dem Zugang zu wei­te­ren Infor­ma­tio­nen aber nur erfolg­reich ver­tei­di­gen, wenn er die­sen recht­zei­tig im Buß­geld­ver­fah­ren begehrt. Solan­ge sich aus der Über­prü­fung der Infor­ma­tio­nen kei­ne hin­rei­chend kon­kre­ten Anhalts­punk­te für die Feh­ler­haf­tig­keit des Mess­ergeb­nis­ses erge­ben, blei­ben die Auf­klä­rungs- und Fest­stel­lungs­pflich­ten der Fach­ge­rich­te nach den Grund­sät­zen des stan­dar­di­sier­ten Mess­ver­fah­rens redu­ziert. Ermit­telt der Betrof­fe­ne indes kon­kre­te Anhalts­punk­te für eine Feh­ler­haf­tig­keit des Mess­ergeb­nis­ses, hat das Gericht zu ent­schei­den, ob es sich – gege­be­nen­falls unter Hin­zu­zie­hung eines Sach­ver­stän­di­gen – den­noch von dem Geschwin­dig­keits­ver­stoß über­zeu­gen kann. Im Übri­gen blei­ben die Mög­lich­kei­ten zur Ableh­nung von Beweis­an­trä­gen aus § 77 Abs. 2 OWiG unberührt.

3. In dem Ver­fah­ren des Beschwer­de­füh­rers haben die Fach­ge­rich­te bereits ver­kannt, dass aus dem Recht auf ein fai­res Ver­fah­ren für den Beschwer­de­füh­rer grund­sätz­lich ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Buß­geld­ak­te befind­li­chen, aber bei der Buß­geld­be­hör­de vor­han­de­nen Infor­ma­tio­nen folgt. Ent­ge­gen der Annah­me der Fach­ge­rich­te kam es dem Beschwer­de­füh­rer ins­be­son­de­re auch nicht auf die Erwei­te­rung des Akten­be­stan­des oder der gericht­li­chen Auf­klä­rungs­pflicht an. Viel­mehr ging es ihm um die Mög­lich­keit einer eigen­stän­di­gen Über­prü­fung des Mess­vor­gangs, um – gege­be­nen­falls – bei Anhalts­punk­ten für die Feh­ler­haf­tig­keit des Mess­ergeb­nis­ses die Annah­me des stan­dar­di­sier­ten Mess­ver­fah­rens erschüt­tern zu können.

Wei­te­re Infor­ma­tio­nen: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedD…