OLG Hamm, Beschluss vom 06.11.2020, AZ III‑5 RVs 83/20

Pres­se­mit­tei­lung OLG Hamm zur Garan­ten­stel­lung einer Jugendamtsmitarbeiterin

Der 5. Straf­se­nat des Ober­lan­des­ge­richts Hamm hat mit Beschluss vom 22.10.2020 ent­schie­den, dass ein Jugend­amts­mit­ar­bei­ter nicht erst dann zum Han­deln ver­pflich­tet ist, wenn er von einer kon­kret eingetretenen
aku­ten Gefähr­dung des Kin­des­wohls tat­säch­lich Kennt­nis nimmt.
Viel­mehr hat er auch für eine pflicht­wid­rig her­bei­ge­führ­te Unkennt­nis von einer sol­chen Gefähr­dung ein­zu­ste­hen. Ande­ren­falls wäre näm­lich gera­de der­je­ni­ge Jugend­amts­mit­ar­bei­ter, der alle an ihn
her­an­ge­tra­ge­nen Warn­zei­chen einer Kin­des­wohl­ge­fähr­dung in einer von
ihm betreu­ten Fami­lie igno­riert und kei­nem Hin­weis nach­geht, am umfas­sends­ten vor straf­recht­li­cher Ver­fol­gung geschützt.
Die ange­klag­te Jugend­amts­mit­ar­bei­te­rin aus dem Hochsauerlandkreis
betreu­te seit August 2013 eine allein­er­zie­hen­de Mut­ter und deren neun
Kin­der. Auf­grund der Mit­tei­lung eines ande­ren Jugend­am­tes war der
Ange­klag­ten bekannt, dass ins­be­son­de­re ein Anfang 2012 geborener
Jun­ge und ein im Früh­ling 2013 gebo­re­nes Mäd­chen in ihrem Kindeswohl
gefähr­det sein könn­ten. Den­noch ist sie untä­tig geblie­ben, wes­halb sie
nicht erkann­te, dass bei­de Kin­der nicht aus­rei­chend ernährt und mit
Flüs­sig­keit ver­sorgt wor­den sind. Das Mäd­chen konn­te durch eine
inten­siv­me­di­zi­ni­sche Behand­lung geret­tet wer­den, nach­dem die Mutter
sie in einer Not­fall­pra­xis Anfang 2014 vor­ge­stellt hat­te. Dage­gen verstarb
der Jun­ge nach einer Vor­stel­lung einen Tag spä­ter durch die
Kin­des­mut­ter im Kran­ken­haus, was auf sei­nen desolaten
Ver­sor­gungs­zu­stand zurück­zu­füh­ren gewe­sen ist.
Das Amts­ge­richt Mede­bach hat die Ange­klag­te am 04.05.2017 (Az. 6 Ds
213/16) wegen fahr­läs­si­ger Tötung und fahr­läs­si­ger Kör­per­ver­let­zung zu
einer Frei­heits­stra­fe von sechs Mona­ten ver­ur­teilt. Die Voll­stre­ckung der
Frei­heits­stra­fe ist zur Bewäh­rung aus­ge­setzt worden.
Mit ihren Beru­fun­gen gegen die­ses Urteil haben die Ange­klag­te ihren
Frei­spruch, da sie nach den fach­li­chen Stan­dards der Jugendhilfe
gehan­delt haben will, und die Staats­an­walt­schaft die Ver­ur­tei­lung zu einer
höhe­ren Frei­heits­stra­fe verlangt.
Mit Urteil vom 07.01.2020 (Az. 3 Ns 101/17) hat das Land­ge­richt Arnsberg
die Beru­fung der Staats­an­walt­schaft ver­wor­fen. Auf die Beru­fung der
6. Novem­ber 2020
Mar­tin Brandt
Pressedezernent
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Ober­lan­des­ge­richt Hamm
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Ange­klag­ten hat es sie wegen fahr­läs­si­ger Tötung durch Unter­las­sen zu
einer Geld­stra­fe von 3.500 € ver­ur­teilt. Wäh­rend die Ange­klag­te ihre
Garan­ten­pflicht – d. h. ihre Ver­pflich­tung, dafür ein­zu­ste­hen, dass der Tod
des Jun­gen nicht ein­tritt – gegen­über die­sem fahr­läs­sig ver­letzt und ihr
mög­li­che Maß­nah­men zur Ver­hin­de­rung von des­sen Hungertod
unter­las­sen habe, sei die Unter­ernäh­rung des Mäd­chens für die
Ange­klag­te nicht zu erken­nen gewesen.
Die Revi­si­on der Ange­klag­ten gegen die­ses Urteil hat­te kei­nen Erfolg. Die
Ange­klag­te habe – so der Senat – eine Gefährdungseinschätzung
bezüg­lich des ver­stor­be­nen Jun­gen über einen Zeit­raum von mehreren
Mona­ten nicht vor­ge­nom­men, obwohl dies unter ande­rem auf­grund der
Mit­tei­lung von Auf­fäl­lig­kei­ten durch ein ande­res Jugend­amt und weiterer
ihr bekann­ter Umstän­de gebo­ten, mög­lich und ihr zumut­bar gewesen
wäre. Danach hät­te sich die Ange­klag­te zeit­nah nach Über­nah­me des
Falls einen per­sön­li­chen Ein­druck ver­schaf­fen oder bei einer Weigerung
der Mut­ter das Fami­li­en­ge­richt anru­fen müs­sen. Der kör­per­li­che Zustand
des Jun­gen sei ab August 2013 bis zu sei­nem Tod bereits so reduziert
gewe­sen, dass sei­ne Unter­ver­sor­gung und die dar­aus folgenden
Ver­hal­tens­auf­fäl­lig­kei­ten bei nicht nur ganz ober­fläch­li­cher Betrachtung
des Kin­des ins Auge gesprun­gen wären. Auf­grund ihrer Untä­tig­keit blieb
der Ange­klag­ten der sich über min­des­tens drei Mona­te andauernde
Zustand des Ver­hun­gerns des Kin­des pflicht­wid­rig ver­bor­gen, so dass sie
das bei Kennt­nis von der Situa­ti­on Erfor­der­li­che nicht habe veranlassen
können.
Nicht anfecht­ba­rer Beschluss des 5. Straf­se­nats des
Ober­lan­des­ge­richts Hamm vom 22.10.2020 (Az. III‑5 RVs 83/20, OLG
Hamm).
Der Beschluss ist in anony­mi­sier­tem Voll­text unter www.nrwe.de in
Kür­ze abrufbar.
Mar­tin Brandt, Pressedezernent
Hin­weis der Pressestelle:
Die Mut­ter der Kin­der ist mit Blick auf die Unter­ver­sor­gung ihrer Kin­der vom
Land­ge­richt Arns­berg (Az. II‑2 Ks 8/16) rechts­kräf­tig zu einer Gesamtfreiheitsstrafe
von drei Jah­ren und sechs Mona­ten wegen Kör­per­ver­let­zung mit Todes­fol­ge durch
Unter­las­sen und gefähr­li­cher Kör­per­ver­let­zung durch Unter­las­sen ver­ur­teilt worden.

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