BGH, Beschluss vom 15.12.2021, AZ 3 StR 441/20

Pres­se­mit­tei­lung des Bun­des­ge­richts­hofs, Nr. 226/2021, vom 15.12.2021

Urteil im sog. NSU-Ver­fah­ren auch hin­sicht­lich des Ange­klag­ten André E. und damit ins­ge­samt rechtskräftig 

Urteil vom 15. Dezem­ber 2021 – 3 StR 441/20

Mit Urteil vom 11. Juli 2018 hat das Ober­lan­des­ge­richt Mün­chen den Ange­klag­ten André E. wegen Unter­stüt­zung einer ter­ro­ris­ti­schen Ver­ei­ni­gung zu einer Frei­heits­stra­fe von zwei Jah­ren und sechs Mona­ten ver­ur­teilt. Von vier wei­te­ren Vor­wür­fen – der Bei­hil­fe zum ver­such­ten Mord in Tat­ein­heit mit Her­bei­füh­ren einer schwe­ren Spreng­stoff­ex­plo­si­on, der zwei­fa­chen Bei­hil­fe zum Raub sowie der Unter­stüt­zung einer ter­ro­ris­ti­schen Ver­ei­ni­gung – hat es ihn freigesprochen. 

Nach den vom Ober­lan­des­ge­richt zur Ver­ur­tei­lung des Ange­klag­ten getrof­fe­nen Fest­stel­lun­gen ver­schaff­te er der aus Böhn­hardt, Mund­los und der – mitt­ler­wei­le rechts­kräf­tig ver­ur­teil­ten – Mit­an­ge­klag­ten Bea­te Z. bestehen­den ter­ro­ris­ti­schen Ver­ei­ni­gung NSU (“Natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Unter­grund”) in den Jah­ren 2009, 2010 und 2011 jeweils zwei für ein Jahr gül­ti­ge Bahn­cards der Deut­schen Bahn, die auf ihn und sei­ne Ehe­frau aus­ge­stellt, indes mit Licht­bil­dern von Böhn­hardt und Z. ver­se­hen waren. Der Ange­klag­te hielt es zu die­sen Zeit­punk­ten für mög­lich und nahm es hin, dass sich das abge­tarnt im Unter­grund leben­de Trio zu einer Ver­ei­ni­gung ver­bun­den hat­te, deren Zwe­cke und Tätig­keit auf die Bege­hung von Tötungs­de­lik­ten und Spreng­stoff­an­schlä­gen gerich­tet waren. Wie ihm bekannt war, ermög­lich­ten die Bahn­cards den bei­den Begüns­tig­ten nicht nur, zu einem her­ab­ge­setz­ten Preis Bahn­fahr­kar­ten zu kau­fen, son­dern auch, sich behelfs­mä­ßig unter fal­scher Iden­ti­tät auszuweisen. 

Zum Teil­frei­spruch hat das Ober­lan­des­ge­richt fest­ge­stellt, dass der Ange­klag­te in den Jah­ren 2000 und 2003 zu einem Mord­an­schlag mit Spreng­stoff in den Räum­lich­kei­ten eines Lebens­mit­tel­ge­schäfts in Köln sowie zu zwei Raub­über­fäl­len auf eine Post- und eine Spar­kas­sen­fi­lia­le in Chem­nitz Hil­fe leis­te­te. Bei der Deto­na­ti­on der als Spreng­fal­le kon­stru­ier­ten Bom­be wur­de die 19-jäh­ri­ge Toch­ter des ira­ni­schen Geschäfts­in­ha­bers am Kopf mas­siv ver­letzt. Er selbst, sei­ne Ehe­frau und eine wei­te­re Toch­ter zogen sich ledig­lich zufalls­be­dingt kei­ne töd­li­chen oder gra­vie­ren­den Ver­let­zun­gen zu. In den drei Fäl­len hat­te der Ange­klag­te das Wohn­mo­bil, mit dem Böhn­hardt und Mund­los zum jewei­li­gen Tat­ort hin- und von dort zurück­fuh­ren, ange­mie­tet und ihnen über­ge­ben. Fer­ner beglei­te­te der Ange­klag­te im Jahr 2007 die Mit­an­ge­klag­te zu einer in ande­rer Sache durch­ge­führ­ten poli­zei­li­chen Zeu­gen­ver­neh­mung, in der sie sich als sei­ne Ehe­frau aus­gab. Er bestä­tig­te als Zeu­ge ihre Falsch­an­ga­ben. Zuvor hat­te er Z. den Bun­des­per­so­nal­aus­weis sei­ner Ehe­frau über­las­sen, mit dem sie sich bei ihrer Ein­ver­nah­me aus­wies. Das Ober­lan­des­ge­richt hat aller­dings nicht die Über­zeu­gung gewon­nen, der Ange­klag­te habe bei den drei Wohn­mo­bil­über­ga­ben damit gerech­net, dass er die Bege­hung eines Mord­an­schlags oder Raub­über­falls för­de­re, oder es bis zur Been­di­gung der poli­zei­li­chen Zeu­gen­ver­neh­mung der Mit­an­ge­klag­ten für mög­lich gehal­ten, er unter­stüt­ze eine Ver­ei­ni­gung, deren Zwe­cke oder Tätig­keit dar­auf gerich­tet sei­en, Tötungs­de­lik­te oder Spreng­stoff­an­schlä­ge zu begehen. 

Gegen das Urteil haben sowohl der Ange­klag­te als auch der Gene­ral­bun­des­an­walt die­sen betref­fend Revi­si­on ein­ge­legt. Der Ange­klag­te hat sich gegen sei­ne Ver­ur­tei­lung gewandt, der Gene­ral­bun­des­an­walt den Teil­frei­spruch angegriffen. 

Der nach der Geschäfts­ver­tei­lung des Bun­des­ge­richts­hofs bun­des­weit für alle Staats­schutz­straf­sa­chen zustän­di­ge 3. Straf­se­nat hat bei­de Rechts­mit­tel ver­wor­fen. Die Ver­fah­rens­be­an­stan­dung des Ange­klag­ten hat man­gels Tat­sa­chen­vor­trags bereits den gesetz­li­chen Forman­for­de­run­gen nicht genügt (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Die mate­ri­ell­recht­li­che Nach­prü­fung des schrift­li­chen Urteils, die auf die von bei­den Revi­si­ons­füh­rern erho­be­nen Sach­rü­gen gebo­ten war, hat, soweit der Ange­klag­te ver­ur­teilt wor­den ist, kei­nen ihn benach­tei­li­gen­den Rechts­feh­ler, soweit er frei­ge­spro­chen wor­den ist, kei­nen ihn begüns­ti­gen­den Rechts­feh­ler erge­ben (§ 337 StPO). Im Zen­trum die­ser Prü­fung hat dabei die tatrich­ter­li­che Beweis­wür­di­gung zur sub­jek­ti­ven Tat­sei­te gestan­den. Soweit der Gene­ral­bun­des­an­walt inso­weit ver­schie­dent­lich wei­te­re Erör­te­run­gen in den Grün­den des ange­foch­te­nen Urteils ver­misst und des­halb revi­si­ons­recht­lich beacht­li­che Lücken moniert hat, hat der 3. Straf­se­nat unter ande­rem die höchst­rich­ter­li­che Recht­spre­chung zum gebo­te­nen Umfang der Dar­stel­lung der Beweis­wür­di­gung bestä­tigt. Hier­nach gilt: 

Zwar ver­pflich­tet § 261 StPO das Tat­ge­richt, alle fest­ge­stell­ten Tat­um­stän­de und Beweis­ergeb­nis­se, soweit sie für oder gegen den Ange­klag­ten spre­chen kön­nen oder bei­de Mög­lich­kei­ten zulas­sen, einer umfas­sen­den Wür­di­gung zu unter­zie­hen; die­se ist in den Urteils­grün­den dar­zu­le­gen. Die Dar­stel­lung kann jedoch ihrer Natur nach nicht in dem Sin­ne erschöp­fend sein, dass alle irgend­wie denk­ba­ren Gesichts­punk­te und Wür­di­gungs­va­ri­an­ten aus­drück­lich abge­han­delt wer­den. Eine sol­che exzes­si­ve Erör­te­rung wür­de die Mög­lich­kei­ten und Res­sour­cen der Gerich­te über­stei­gen, ohne dass jemals abso­lu­te Voll­stän­dig­keit erreicht wer­den könn­te. Sie ist daher von Rechts wegen nicht zu ver­lan­gen. Aus­rei­chend ist die Anga­be des für die Ent­schei­dung Wesent­li­chen. Die Urteils­grün­de müs­sen deut­lich machen, dass das Tat­ge­richt nahe­lie­gen­de erheb­li­che Bewei­s­tat­sa­chen nicht über­se­hen oder unver­tret­bar gewer­tet hat. Aus ein­zel­nen tat­säch­lich bestehen­den oder denk­ba­ren Lücken der aus­drück­li­chen Erör­te­rung kann nicht abge­lei­tet wer­den, das Tat­ge­richt habe nach den sons­ti­gen Urteils­grün­den auf der Hand lie­gen­de Wer­tungs­ge­sichts­punk­te nicht bedacht. Eine revi­si­ons­recht­lich beacht­li­che Lücke liegt viel­mehr erst vor, wenn eine wesent­li­che Fest­stel­lung über­haupt nicht erör­tert oder ein aus den Urteils­grün­den ersicht­li­ches bedeut­sa­mes Beweis­ergeb­nis über­gan­gen wird. 

Das Urteil des Ober­lan­des­ge­richts ist damit ins­ge­samt rechtskräftig. 

Vor­in­stanz:
OLG Mün­chen — 6 St 3/12 — Urteil vom 11. Juli 2018 

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