Ver­fas­sungs­ge­richt Rhein­land-Pfalz, Beschluss vom 26.07.2022, AZ VGH B 30/21

Aus­ga­be: 06/07–2022

Der Ver­fas­sungs­ge­richts­hof Rhein­land-Pfalz in Koblenz hat mit Beschluss vom 22. Juli 2022 eine Ver­fas­sungs­be­schwer­de zurück­ge­wie­sen, der eine Ver­ur­tei­lung wegen eines Geschwin­dig­keits­ver­sto­ßes zugrun­de lag.

Der Beschwer­de­füh­rer war Betrof­fe­ner in einem Buß­geld­ver­fah­ren, in dem ihm ein Geschwin­dig­keits­ver­stoß (Über­schrei­tung der zuläs­si­gen Höchst­ge­schwin­dig­keit außer­halb geschlos­se­ner Ort­schaf­ten nach Tole­ranz­ab­zug um 70 km/h) vor­ge­wor­fen wur­de. Die Geschwin­dig­keits­mes­sung erfolg­te mit­tels eines mobi­len Mess­ge­rä­tes des Typs PoliScan Speed M1. Bei die­sem Mess­ge­rät wer­den kon­ti­nu­ier­lich Laser­im­pul­se aus­ge­sen­det, die vom Fahr­zeug reflek­tiert und vom Gerä­te­sen­sor erfasst wer­den und aus denen die Gerä­te­soft­ware sodann Posi­ti­on und Geschwin­dig­keit des Fahr­zeugs berech­net. Die­se dem Rechen­vor­gang zugrun­de­lie­gen­den Posi­ti­ons- und Zeit­da­ten wer­den als Roh­mess­da­ten bezeich­net und von dem Gerät PoliScan Speed M1 – wie auch von ver­schie­de­nen ande­ren Mess­ge­rä­ten – nicht dau­er­haft, son­dern nur bis zur Errech­nung des Geschwin­dig­keits­wer­tes abge­spei­chert, obwohl eine dau­er­haf­te Spei­che­rung tech­nisch mög­lich wäre. Wäh­rend des Buß­geld­ver­fah­rens begehr­te der Beschwer­de­füh­rer über sei­ne Ver­tei­di­gung die Über­las­sung ver­schie­de­ner, nicht in der Buß­geld­ak­te ent­hal­te­ner Mess­un­ter­la­gen. Zudem stell­te er – schon vor der Entschei¬dung der Buß­geld­be­hör­de – einen Antrag auf gericht­li­che Ent­schei­dung. Dar­über hin­aus mach­te er gel­tend, die Ver­wer­tung des ermit­tel­ten Geschwin­dig­keits­mess­wer­tes bei gleich­zei­ti­ger Löschung der Roh­mess­da­ten ver­sto­ße gegen das Recht auf ein fai­res Verfahren. 

Das Amts­ge­richt Witt­lich ver­ur­teil­te den Beschwer­de­füh­rer im Juli 2020 wegen des Geschwin­dig­keits­ver­sto­ßes zu einer Geld­bu­ße von 970,00 Euro und unter­sag­te ihm für die Dau­er von zwei Mona­ten, im Stra­ßen­ver­kehr Kraft­fahr­zeu­ge jeder Art zu füh­ren. Sei­ne gegen die amts­ge­richt­li­che Ent­schei­dung erho­be­ne Rechts­be­schwer­de ver­warf das Ober­lan­des­ge­richt Koblenz im Febru­ar 2021.

Mit sei­ner Ver­fas­sungs­be­schwer­de wen­det sich der Beschwer­de­füh­rer sowohl gegen das Urteil des Amts­ge­richts als auch gegen den Beschluss des Ober­lan­des­ge­richts und macht unter ande­rem eine Ver­let­zung sei­nes Rechts auf ein fai­res Ver­fah­ren gel­tend. Sei­ne Ver­ur­tei­lung basie­re auf einem Mess­wert, der sich aus Roh­mess­da­ten errech­ne, die aber nach der Mes­sung vom Gerät gelöscht wor­den sei­en und damit zur nach¬träglichen Über­prü­fung nicht mehr her­an­ge­zo­gen wer­den könn­ten. Dar­über hin­aus habe er Ein­sicht in ver­schie­de­ne Doku­men­te und Unter­la­gen begehrt, die nicht Bestand­teil der Buß­geld­ak­te sei­en. Die Ableh­nung sei­nes Ein­sichts­an­trags stel­le sich als eigen­stän­di­ger Ver­stoß gegen das Recht auf ein fai­res Ver­fah­ren dar.

Nach­dem der Ver­fas­sungs­ge­richts­hof bereits im ver­gan­ge­nen Jahr einen Antrag des Beschwer­de­füh­rers auf Erlass einer einst­wei­li­gen Anord­nung abge­lehnt hat­te (Beschluss vom 21. Juni 2021 – VGH A 39/21 –), blieb nun­mehr auch die Verfassungs¬beschwerde ohne Erfolg.

Was die vom Beschwer­de­füh­rer begehr­ten, tat­säch­lich vor­han­de­nen Unter­la­gen anbe­lan­ge, erwei­se sich die Ver­fas­sungs­be­schwer­de bereits als unzu­läs­sig. Nach dem Grund­satz der Sub­si­dia­ri­tät der Ver­fas­sungs­be­schwer­de müs­se der Beschwer­de­füh­rer schon im fach­ge­richt­li­chen Ver­fah­ren die ihm zur Ver­fü­gung ste­hen­den Mög­lich­kei­ten ergrei­fen, um eine Grund­rechts­ver­let­zung zu ver­hin­dern. Hier­zu gehö­re auch, dass der Betrof­fe­ne eines Ord­nungs­wid­rig­kei­ten­ver­fah­rens den Anspruch auf Zugäng­lich-machung der von ihm für erfor­der­lich gehal­te­nen Daten und Unter­la­gen bereits gegen¬über der Buß­geld­stel­le gel­tend mache und im Fal­le einer Ver­wei­ge­rung einen ord¬nungsgemäßen Antrag auf gericht­li­che Ent­schei­dung bei dem zustän­di­gen Amts­ge­richt stel­le. Dies sei vor­lie­gend unter­blie­ben, da der anwalt­lich ver­tre­te­ne Beschwer­de­füh­rer schon vor der Ent­schei­dung der Buß­geld­be­hör­de einen Antrag auf gericht­li­che Ent¬scheidung gestellt habe, der in die­ser (beding­ten) Form nicht zuläs­sig sei.

Hin­sicht­lich der gerüg­ten Nicht­spei­che­rung der Roh­mess­da­ten durch das Geschwin¬digkeitsmessgerät blei­be die Ver­fas­sungs­be­schwer­de in der Sache ohne Erfolg, da der Beschwer­de­füh­rer hier­durch nicht in sei­nem Recht auf ein fai­res Ver­fah­ren nach Art. 77 Abs. 2 in Ver­bin­dung mit Art. 1 Abs. 1 der Ver­fas­sung für Rhein­land-Pfalz ver­letzt wer­de. Aus die­ser Gewähr­leis­tung fol­ge im Grund­satz das Recht des Betrof­fe­nen eines Buß­geld­ver­fah­rens, in tat­säch­lich vor­han­de­ne Unter­la­gen Ein­sicht zu neh­men. Auf die­se Wei­se wer­de dem auch von dem Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt in jün­ge­rer Zeit beton­ten Gedan­ken der „Waf­fen­gleich­heit“ zwi­schen Buß­geld­be­hör­de und Betrof­fe­nem Rech­nung getra­gen und die­sem die Mög­lich­keit eröff­net, selbst nach Entlastungs¬momenten in Gestalt von Feh­lern im stan­dar­di­siert ablau­fen­den Mess­ver­fah­ren zu suchen. Der Gedan­ke der Waf­fen­gleich­heit kom­me im Fal­le der tat­säch­lich nicht (mehr) vor­han­de­nen Roh­mess­da­ten aller­dings nicht zum Tra­gen, da die Roh­mess­da­ten weder dem Betrof­fe­nen, noch der Buß­geld­stel­le, der Staats­an­walt­schaft oder dem Gericht zur Ver­fü­gung stünden.

Der Beschwer­de­füh­rer kön­ne aus dem Recht auf ein fai­res Ver­fah­ren aber auch nicht für sich her­lei­ten, dass bei stan­dar­di­sier­ten Mess­ver­fah­ren, zu denen auch die vorlie¬gende Geschwin­dig­keits­mes­sung zäh­le, Roh­mess­da­ten zwin­gend gespei­chert wer­den müss­ten. Das Recht auf ein fai­res Ver­fah­ren schüt­ze den Ein­zel­nen davor, dass rechts¬staatlich Unver­zicht­ba­res preis­ge­ge­ben wer­de und stel­le damit ver­fas­sungs­recht­li­che Min­dest­an­for­de­run­gen auf, die vor­lie­gend nicht unter­schrit­ten wor­den sei­en. Denn die Nicht­spei­che­rung der Roh­mess­da­ten, deren Nut­zen für eine nach­träg­li­che Über­prü­fung des Mess­ergeb­nis­ses im tech­nisch-fach­wis­sen­schaft­li­chen Schrift­tum ohne­hin umstrit¬ten sei, wer­de durch ver­schie­de­ne rechts­staat­li­che Siche­run­gen hin­rei­chend ausge¬glichen. Zum einen stel­le ein mehr­stu­fi­ges Zulas­sungs- bzw. Konformitätsprüfungs¬verfahren sicher, dass das Mess­ge­rät den Anfor­de­run­gen des Mess- und Eich­rechts ent­spre­che. Dadurch wer­de die Über­prü­fung des ein­zel­nen Geschwin­dig­keits­mess-wer­tes gleich­sam auf das Mess­ge­rät selbst und sein Zulas­sungs­ver­fah­ren vor­ver­la­gert. Zum ande­ren wer­de die feh­len­de voll­stän­di­ge Über­prüf­bar­keit des Mess­ergeb­nis­ses durch die Redu­zie­rung des gemes­se­nen Wer­tes um einen die sys­tem­im­ma­nen­ten Mess­feh­ler erfas­sen­den Tole­ranz­wert kom­pen­siert. Schließ­lich bestün­den verschie¬dene wei­te­re Mög­lich­kei­ten des Betrof­fe­nen und sei­nes Ver­tei­di­gers, den Vor­gang der Geschwin­dig­keits­mes­sung nach­träg­lich einer Über­prü­fung zu unter­zie­hen, da ihm nach der Recht­spre­chung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts wie auch des Verfassungs¬gerichtshofs Rhein­land-Pfalz auf sei­nen ord­nungs­ge­mä­ßen Antrag hin vor­han­de­ne Unter­la­gen und Infor­ma­tio­nen mit erkenn­ba­rer Rele­vanz für die Ver­tei­di­gung regel¬mäßig zur Ver­fü­gung gestellt wer­den müssten.

Wei­te­re Infor­ma­tio­nen: https://justiz.rlp.de/de/service-informationen/…